Donnerstag, 12. Februar 2009

I: 2.1 Die neuen Produktionsmittel

Nürnberg. Freitag, 31. Januar 1969, 19.00 Uhr. In der zweiten Etage des Gebäudes Paumgartnerstraße Nr. 6 herrschte höchste Aufregung. Prominenz nahte. Mit Verspätung.Vormittags hatte Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß noch mit dem Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger und den Ministerpräsidenten der Länder über die Finanzreform konferiert. Ohne Ergebnis. Dann war er mit einem Hubschrauber der Bundeswehr nach Nürnberg geeilt. Doch der Flughafen erteilte ihm keine Landeerlaubnis. Er musste hohen Nato-Offizieren, die in der fränkischen Metropole tagten, den Vorrang lassen. Endlich, nach 30 Minuten des Wartens in der Luft, hatte der Finanzminister wieder festen Boden unter den Füßen. Endlich ging es ab zum Grand-Hotel. Inzwischen war es 17.30 Uhr.



Wirtschaftsminister Karl Schiller und Finanzminister Franz-Josef Strauß, auch bekannt als Plisch und Plum, waren das Vorzeigestück der Großen Koalitionen von Union und SPD, die im Januar 1969 in ihre letzte Phase ging.


I: 2.2 Minister auf Knopfdruck

Die DATEV hatte den Minister zu einem Vortrag eingeladen. Sein Thema: »Elektronische Datenverarbeitung und Steuerrecht«. Doch damit war sein Engagement noch nicht zu Ende. Kurz vor 19.00 Uhr brachte ihn eine Eskorte zur Paumgartnerstraße mit der Hausnummer 6.Wenige Minuten später stand der Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß vor der Bedienungskonsole eines Computers im »Großrechenzentrum der DATEV Deutschland« (Nürnberger Zeitung). Dann war der große Augenblick da. Strauß beugte sich hinunter und drückte auf einen Knopf.

Finanzminister Strauß
Foto: DATEV


I: 2.3 Der Proficlub


Profis unter sich. Ganz links: Heinz Sebiger

Der Minister hatte mit diesem symbolischen Knopfdruck das Rechenzentrum der DATEV eGmbH offiziell in Betrieb genommen. Das Unternehmen, das drei Jahre zuvor mit dem Ziel gegründet worden war, seinen Mitgliedern DV-Dienstleistungen anzubieten, besaß jetzt einen eigenen Computer. Bislang war es selbst nur Kunde eines Service-Rechenzentrums der IBM gewesen.Der Schritt vom Amateurverein zum Proficlub war getan. »Ich spürte, dass nun die Experimentier- und Probephase endgültig zu Ende war«, erinnert sich Sebiger. Die Paumgartnerstraße in Nürnberg sollte die erste und wichtigste Adresse für die bundesdeutschen Steuerberater werden, die hier ihre Mandanten-Buchungen verarbeiten ließen.
Foto: DATEV

I: 3.1 Maschinensaal

In dieser Straße sollte sich in den folgenden Jahren über eine ganze Häuserzeile, ja sogar über einen ganzen Block hinweg jener gewaltige Gebäudekomplex ausbreiten, der heute unter dem Namen DATEV I bekannt ist.Am 1. Juni 1968 war die Genossenschaft in die zweite Etage desehemaligen Gebäudes der Nürnberger Schraubenfabrik NSF eingezogen. Genau 5.500 DM Miete zahlte sie monatlich für 1.800 Quadratmeter an die Gute Hoffnungshütte. Doch das war nichts im Vergleich zu den 245.000 Mark, die sie nun für ihren bei IBM gemieteten Computerpark monatlich zahlte. Die 70 Mitarbeiter waren stolz auf ihren Maschinensaal.


I: 3.2 In der Hälfte der Zeit

Immerhin standen hier vier Großrechner: zwei Modelle IBM /360-20 und zwei Modelle IBM /360-40. An diese Systeme waren sechs Drucker angeschlossen. Alles lief wie am Schnürchen. Die Buchungsprogramme hatten alle Tests bestanden. Von diesem Tag an wollte die DATEV die Aufträge ihrer momentan 2.558 Mitglieder, hinter denen etwa 100.000 Steuerpflichtige standen, täglich verarbeiten. Bis Ende des Jahres sollte sich die Zahl der Mandanten auf 140.000 erhöhen und die der Mitglieder ganz dicht an die 4000er Grenze herankommen. Gerechnet hatte Sebiger mit nur etwas mehr als 3.000 Berufsangehörigen. Doch das Konzept der DATEV war einfach zu attraktiv. »Die elektronische Datenverarbeitung in der Steuerberatung macht es den Beratern möglich, die Buchführungsarbeiten für ihre Mandanten in der Hälfte der bisherigen Zeit zu erledigen«, würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung damals in ihrem Wirtschaftsteil das Rechenzentrum.[1]



Quelle:
[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.2.69: »Steuerberatung mit Computer«


I: 3.3 Nürnberger Rechentrichter

Schon jetzt wurden allmonatlich 20 Millionen Buchungszeilen durch den Nürnberger Rechentrichter geschleust.[1] Die DATEV war auf diesen Ansturm vorbereitet. „Außerdem, und das ist ein Novum, fällt bei der elektronischen Auswertung der Buchhaltungsunterlagen zusätzliches Material an, aus dem die Rentabilitäts- und Liquiditätslage der Mandanten sofort abgelesen werden kann“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung. »Was die Berater bisher in mühevoller Zusatzarbeit zusammenstellen mussten, wird jetzt vom Computer praktisch als ‚Abfall’ geliefert.«[2]Nicht nur die Finanzbuchhaltung mit Journalen, Kontenblättern, Summen- und Saldenlisten, Debitoren und Kreditoren werden hier abgewickelt, konkretisierte Sebiger die neue Welt der DATEV. Vielmehr würden obendrein »ganz erhebliche zusätzliche Leistungen« wie etwa „eine monatliche Ertrags- und Kostenanalyse in absoluten und relativen Werten« erstellt. Außerdem würde für die Mandanten eine „voll ausgefertigte Umsatzsteuervoranmeldung« an die Mitglieder ausgeliefert.[3]


Quellen:
[1] Fränkische Tagespost, 1./2.2.69: »Computer für Steuern««
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.2.69: »Steuerberatung mit Computer«
[3] Nürnberger Zeitung, 1.2.69: »Finanzminister Strauß ging in die Luft«

I: 3.4 Elektronische Steuergehilfen




Mitgründer Joachim Mattheus erklärt dem Finanzminster die Seele der Maschine

Mit ihrer DV-Organisation konnte man sich schon sehen lassen. Gespannt hatten die Mitarbeiter den gesamten Nachmittag auf den berühmten Knopfdruck von Franz-Josef Strauß gewartet. Nun war der große Augenblick vorbei. Die Besichtigung des neuen Rechenzentrums konnte beginnen. Das war die Stunde von Vorstandsmitglied und Mitgründer Joachim Mattheus. Er führte nun die Ehrengäste, mit Strauß und Konrad Pöhner, dem damaligen Finanzminister Bayerns, an der Spitze durch den Maschinensaal.
Seine Erläuterungen bewiesen vor allem eins: Die Nürnberger waren längst DV-Profis geworden.
Der Besuch des Bundesfinanzministers war nicht ohne Pikanterie, wie Hans-Olaf Henkel, seit 1985 Vorsitzender der Geschäftsführung der IBM Deutschland, befindet. Denn ausgerechnet der oberste Chef der Finanzbehörden startete jene Rechenanlage, »die vielen helfen sollte, Steuern zu sparen«. Aber mehr noch sollte dieses neue Rechenzentrum dabei helfen, Steuern einzunehmen…