Montag, 16. März 2009

4.0 Der Wert der Mehrwertsteuer


4.1 Die Computer der Finanzämter

Mit Inbetriebnahme des eigenen Rechenzentrums hatte der steuerberatende Beruf ein wenig mit den bundesdeutschen Finanzämtern gleichgezogen, die – so Strauß in seinem Vortrag im Grand-Hotel – 1968 bereits 90 Prozent der Lohnsteuerjahresausgleiche mechanisch abgewickelt hatten.[1]»Hochwertige Technik zog in die Finanzämter schon lange vor dem zweiten Weltkrieg ein«, berichtet 17 Jahre später Hanns Püschel, Ministerialrat in Bonn, in der Zeitschrift »DSWR« (Datenverarbeitung, Steuer, Wirtschaft, Recht) über die Anfänge.
Schon Ende der fünfziger Jahre war der Staat mit seinen elf Lan­des­finanzverwaltungen bereits so weit, den Lohnsteuer-Jahresausgleich und die Einkommensteuer-Veranlagung mit Hilfe der Computer der ersten Generation abzuwickeln. Von da ab gab es kein Halten mehr. Rund 20 Millionen Steuererklärungen wurden alsbald computerunterstützt bearbeitet. Eine neue Infrastruktur entstand. Püschel: »Von den Angehörigen der steuerberatenden Berufe – Bindeglied zwischen Steuerzahler und Verwaltung – wurde sie aufmerksam registriert, weniger von der Öffentlichkeit. «[2]
Quelle:
[1] Nürnberger Zeitung, 1.2.69: „Finanzminister Strauß ging in die Luft“
[2] DWSR, 2/86, Hanns Püschel: „EDV in der Steuerverwaltung - gestern, heute morgen“

4.2 Sieben Jahre für die Mehrwertsteuer

Dass die Steuerberater da irgendwann gegenhalten mussten, war klar. Hochaktuell wurde diese Gegenoffensive mit der Einführung der Mehrwertsteuer am 1. Januar 1968. Jetzt waren die Steuerberater als »Bindeglied zwischen Steuerzahler und Verwaltung« voll gefordert. »Viele der kleinen und mittelständischen Firmen waren von dieser Neuerung überfordert«, blickt Sebiger zurück. In der Tat – die Einführung der Mehrwertsteuer erschütterte Mitte der sechziger Jahre die bundesdeutsche Wirtschaft. Der Bund der Steuerzahler bemerkte damals: »Grundsätzlich begrüßt der Bund der Steuerzahler die Abschaffung der kumulativ wirkenden Brutto-Allphasenumsatzsteuer und die Einführung der Mehrwertsteuer, doch hält er den Termin, den 1. Januar 1968 für übereilt, da der Wirtschaft keine ausreichende Vorbereitungszeit eingeräumt wird.«[1]Nach mehr als siebenjähriger Vorbereitung war am 2. Juni 1967 das neue Umsatzsteuergesetz verkündet worden, das dann bereits am 1. Januar 1968 in Kraft treten sollte.

[1] Die Mehrwertsteuer, Einführung in das neue Umsatzsteuersystem mit praktischen Beispielen, Herausgegeben vom Präsidium des Bundes der Steuerzahler, August 1967, Bad Wörishofen

4.3 Die europäische Steuer-Harmonie

Eine Fülle von Maßnahmen mussten die Unternehmen beim Umstieg auf die neue Steuer einleiten, die nach Meinung der Tageszeitung »Die Welt« die »wichtigste wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidung seit Entstehen der Bundesrepublik Deutschland« darstellte.[1] Nach Aussage der Deutsche Bank AG sei die Mehrwertsteuer als ein »Systemwechsel tiefgreifendster Art« zu betrachten. Sie sei gar »im Hinblick auf die davon betroffene steuerliche Größenordnung die bedeutendste Steuerreform nicht nur der Bundesrepublik, sondern der deutschen Finanzgeschichte schlechthin«, schrieb die Bank.[2]
Die Einführung der Mehrwertsteuer hatte sogar internationale Bedeutung, da sie im Rahmen der Bemühungen stand, unter den Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) das Steuersystem zu harmonisieren. So hatte das Europäische Parlament am 21. Oktober 1965 einstimmig den Ministerrat dazu aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Steuergrenzen beseitigt und die Umsatzsteuern harmonisiert werden.
[3] Am 11. April 1967 war es dann soweit: Der Ministerrat genehmigte die Richtlinien zur Einführung der Mehrwertsteuer. Zwei Wochen später hatte auch der Bundestag das Reformgesetz verabschiedet. Und der Bundesrat zog am 12. Mai 1967 nach. Mit der Einführung am 1.1.1968 war die Bundesrepublik zeitgleich mit Frankreich das zweite Land nach Dänemark (1. Juli 1967), das im Rahmen der Harmonisierung des Steuersystems innerhalb der EWG diese neue Steuer einführte. (In Großbritannien dauerte es noch bis zum 1. April 1973, also dem Jahr, in dem das Vereinigte Königreich der Europäischen Gemeinschaft beitrat.)

[1] Die Welt, 18.1.63, Helmut Borgböhmer
[2] Einführung in die neue Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer), Juni 1967, Deutsche Bank AG
[3] Politische Wegbereiter der Mehrwertsteuer, Curt Becker und Manfred Luda, Ludwigsburg, 1967

4.4 Der 20-Milliarden-Deal

Die Idee der Mehrwertsteuer hatte erstmals 1957 der Bundestagsabgeordnete Dr. Curt Becker in die Öffentlichkeit getragen. Der Unternehmer hatte am 16. November 1957 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« seine Vorstellung einer Reform der bisherigen Allphasen-Steuer vorgeschlagen und löste damit eine »Schockwirkung« aus. »Den beteiligten Kreisen wurde klar, dass jede Mehrwertsteuer ein fundamentales Umdenken bedingen würde«, bemerkt Wolfgang Frickhöffer, Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, 1967 in einer Veröffentlichung.[1]Doch diese Gedankenarbeit setzte erst so richtig ein, als das neue Steuersystem aktuell wurde: »Die Mehrwertsteuer ist nicht, wie die alte Umsatzsteuer, in unbekannter Höhe im Preis enthalten, sondern läuft – wie ein durchlaufender Posten – neben dem Preis her. Sie hat also im Gegensatz zur alten Umsatzsteuer keine kumulierende Wirkung«, erklärt eine Schrift des Bundes der Steuerzahler. Zudem mussten die Kalkulation auf eine neue Basis gestellt und beim Übergang die Warenlager überprüft werden. Denn hier waren ja noch Waren enthalten, die mit der alten Umsatzsteuer belastet waren. Es kam prompt zu einem rapiden Abbau der Lagerbestände. Bei der Kalkulation musste – nach damaligen vorsichtigen Schätzungen – ein Volumen von 20 Milliarden Mark umgeschichtet werden.

[1] Politische Wegbereiter der Mehrwertsteuer, Curt Becker und Manfred Luda, Ludwigsburg, 1967

4.5 Ende des Allphasenbruttosystems

Der Übergang zur »Nettokalkulation stellt ganz erhebliche Anforderungen an die Wirtschaft, zumal derzeit die Unternehmer nur ihre eigene, an das Finanzamt abzuführende Umsatzsteuer kennen, dagegen die in den Waren- und Leistungsbezügen enthaltene Umsatzsteuer, die Vorbelastung, die auch beim Allphasenbruttosystem vorhanden ist, nicht kennen. Es wird Aufgabe jedes Unternehmers sein, schon jetzt vor Inkrafttreten des Mehrwertsteuergesetzes, durch eindringliche Verhandlungen mit seinen Zulieferern diesen künftigen Nettopreis zu finden«, heißt es in einer der vielen Schriften über die »Einführung der Mehrwertsteuer«, die damals auf den Markt kamen.[1]
Angst vor Europa zog mit dem 1. Januar 1968 in die deutsche Wirtschaft ein. Denn mit dem neuen System fiel auch die Ausgleichssteuer weg, mit der Importe belastet waren: »Jeder Unternehmer, der zu einem Nettopreis, der noch Allphasenbruttoumsatzsteuer enthält, anbietet, ist gegenüber den Importwaren benachteiligt und fördert damit den Import anstatt seine eigenen Umsätze«, war in einer »Einführung« zu lesen.[2]

[1] Dr. Hermann Schropp, Arthur Krumm: „Einführung in die Mehrwertsteuer“, 9/1967, Stuttgart
[2] Dr. Hermann Schropp, Arthur Krumm: „Einführung in die Mehrwertsteuer“, 9/1967, Stuttgart

4.6 Steuer mit Voranmeldung

Die nächste Neuerung war die Umsatzsteuer-Voranmeldung, die im ersten Quartal 1968 abgegeben werden musste. Deshalb empfahl es sich, bis Ende 1967 »Forderungen sofort zu erfassen und am 10. Januar 1968 mit der Dezember-Voranmeldung des Jahres 1967 zu versteuern. «[1] All das war verwirrend und ungewohnt. Es sorgte dafür, dass die Unternehmen vor allem auf die Hilfe des steuerberatenden Berufs hofften.
Die Geschäftsführungen der Klein- und Mittelbetriebe kamen damals mit dem neuen System nicht klar und hatten deshalb auf die Hilfe der Steuerberater und Steuerbevollmächtigten gesetzt. »Die Wirtschaft hätte ohne die Hilfe des steuerberatenden Berufs die Umstellung auf die Mehrwertsteuer niemals so reibungslos geschafft«, meint Walter Ludwig Eckert, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der DATEV, die wiederum den Steuerberatern mit dem Computereinsatz helfen sollte, das neue Mengengeschäft, das da auf sie zukam, ordentlich und schnell abzuwickeln. Hinzu kam die Einführung der 40-Stunden-Woche in den sechziger Jahren.

[1] Die Mehrwertsteuer, Einführung in das neue Umsatzsteuersystem mit praktischen Beispielen, Herausgegeben vom Präsidium des Bundes der Steuerzahler, August 1967, Bad Wörishofen

4.8 Buchungszeile für 6,5 Pfennig

Und morgen? Sollte da nur noch der produzieren können, der Computer hatte? Waren sie der Produktionsfaktor der Zukunft? Seit Mitte der sechziger Jahre hatte sich der Vormarsch der neuen Technologien auf breiter Front angekündigt. Doch leisten konnte sich die Elektronische Datenverarbeitung, die EDV, nur, wer groß und kapitalstark war. Der Rest war auf Service-Rechenzentren angewiesen.
An deren Dienste dachte auch die DATEV, als sie am 26. Februar 1966, zwölf Tage nach ihrer offiziellen Gründung, in der Dahlmannstraße 7 ihren Betrieb aufnahm. Der Nürnberger Steuerbevollmächtigte Joachim Mattheus hatte seine Kanzlei als erste Adresse zur Verfügung gestellt. Die kleine Genossenschaft wurde Kunde des IBM Service-Rechenzentrums in Nürnberg. 6,5 Pfennig pro Buchungszeile hatten sie vereinbart. Zu diesem Basispreis verarbeitete IBM für die 65 Gründungsmitglieder Lochkarten und Lochstreifen zu Journalen, Konten sowie Summen- und Saldenlisten.
So war die Situation in den Anfangstagen der DATEV. Es war nur ein kleiner Auftrag für den Computergiganten, doch ein großer Schritt für den steuerberatenden Beruf. Er führte geradewegs in eine für freie Berufe bislang undenkbare Form der Rationalisierung der Berufsarbeit.

4.7 Gastarbeiter: Die erste Million

Nachdem ab 1962 die Wochenarbeitszeit kontinuierlich gesenkt worden war, hatte sich seit dem 1. Oktober 1965 die 40-Stunden-Woche in immer mehr Tarifverträgen durchgesetzt. Das stärkte noch mehr den Wunsch der Betriebe, mit der Buchführung denjenigen zu betrauen, der ohnehin die Zahlen des Unternehmens am besten kannte. Arbeitskräfte waren rar in den sechziger Jahren. 1960 hatte die Bundesregierung damit begonnen, sich verstärkt um ausländische Arbeitnehmer zu bemühen. Aus den 100.000 »Gastarbeitern«, die die Industrie rief, waren am 10. September 1964 mit dem Portugiesen Armando Rodrigues eine Million geworden. Und der Zustrom von Italienern, Spaniern, Jugoslawen und Türken ging weiter. 1973 sollten 2,6 Millionen Nicht-Deutsche bei uns lebten. [1] Viele Betriebe hätten ohne deren Hilfe ihre Arbeit einstellen müssen. So rar waren damals Arbeitskräfte.
»Die Bahnhöfe unserer Großstädte sind bereits wahre Jahrmärkte der Nationen«, schrieb im April 1966 der renommierte Wirtschaftspublizist Jürgen Eick in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Und weiter: »Nach dem Krieg konnte produzieren, wer Rohstoffe hatte. Nach der Währungsreform konnte produzieren, wer Kapital hatte. Heute kann produzieren, wer Arbeitskräfte hat. «[2]

[1] Zeitmagazin, 26.5.89: „Vom Willkommensgruß zur Abschiebehaft: Die Deutschen und die Fremden“
[2] Jürgen Eick, Als noch Milch und Honig flossen“, Stuttgart, 1982

4.9 Die Dialektik der DATEV

»Ja, ich glaube sogar, dass die wirklich großen Gedanken auch heute noch zunächst privat entwickelt werden müssen, weil selbst für die besten Gedanken auch in unserer Zeit niemand Geld geben wird«. Diese tiefe Lebensweisheit des deutschen Computerpioniers Professor Dr.-Ing. E.h. Konrad Zuse, der abgeschnitten von der ganzen Welt in den dreißiger und vierziger Jahren die Rechnerentwicklung vorwärts getrieben hat, gilt auch für die Vorgeschichte der DATEV.[1]
So wie Zuse die bekannten Elementarideen, Erfindungen und Errungenschaften der Mechanik und der Mathematik zur ersten Rechenmaschine mit Speicherwerk zusammenfügte, so steht eigentlich auch hinter der DATEV-Gründung nichts anderes als die innovative und intelligente Verknüpfung von zwei sehr heterogenen Faktoren zu einer grandiosen Synthese:
Individuelles Können. Da war der etablierte und spezialisierte Berufsstands der Steuerberater und Steuerbevollmächtigten, in dem die meisten Mitglieder bis heute kleine Selbständige sind und deren individuelle Dienst-Leistungen »auf Wissen und Können beruhen, die ihrer Natur nach nicht entreißbar oder abpressbar sind«, wie Professor Dr. Werner Ross die Freien Berufe definiert.[2]Massenproduktion. Da war die für die Wirtschaft neuartige und kapitalintensive Computertechnologie, deren damalige Stärke die Massenverarbeitung von immateriellen Produkten, den Daten, war und deren »Auswirkungen um ein Vielfaches größer sein (wird) als die des Automobils«, wie die Computerexperten James Martin und Adrian R.D. Norman 1970 in ihrem Buch »Halbgott Computer« behaupteten.[3]

[1] Die Computer Zeitung, 14.10.70: „Konrad Zuse: In Amerika wäre ich längst Multi-Millionär“
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.84, Professor Dr. Werner Ross: „Ehre, Würde und die Butter auf dem Brot“
[3] James Martin, Adrian R.D.Norman, München 1972: „Halbgott Computer“ (ISBN 3-405-11168-4), zuerst erschienen 1970 unter dem Titel: „The computerized society“


4.10 Zwischen Können und Müssen: die Buchung

Das individuelle Können des Steuerberaters zu kombinieren mit den Vorteilen der Massenproduktion – das scheint auf den ersten Blick unmöglich. Das eine ist arbeitsintensiv, das andere kapitalintensiv. Das eine ist eine hoch spezialisierte, auf den einzelnen Mandanten ausgerichtete, persönlich erbrachte Dienstleistung, das andere setzt eine stetige Gleichförmigkeit des maschinellen Arbeitsprozesses voraus. Und doch gab es eine gemeinsame Schnittmenge zwischen dem individuellen Können des Steuerberaters und der automatisierten Produktion: Die Prinzipien ordnungsmäßiger Buchführung waren für alle Steuerberater und Mandantenbetriebe gleich. Der Gesetzgeber sorgte bundeseinheitlich für ein gewisses Quantum an gleichförmiger Arbeit: die Buchung.
Deren Verarbeitung war in Bayern nicht anders als in Schleswig-Holstein, in Hessen nicht anders als im Saarland, das seit 1960 endgültig zur Bundesrepublik gehörte. Und es wird mit der Integration der neuen Bundesländer in Sachsen nicht anders sein als in Nordrhein-Westfalen, in Berlin oder in Bonn. Die maschinelle Verarbeitung von Buchungen ist unabhängig vom Standort und aus der Sicht der Datenverarbeitung ideal für diese Technologie allerdings nur dann, wenn der intellektuelle Teil der Kontierung von einem persönlich zuständigen Bearbeiter gestaltet und verantwortet wird.



4.11 Dreisatz im Kopf

Das Problem war der Kapitaleinsatz, der bei der Datenverarbeitung sehr hoch ist. Die Hersteller wie IBM milderten dies zwar, indem sie ihre Rechner vorwiegend vermieteten. Doch die Belastung blieb hoch. Denn IBM hatte nichts zu verschenken. Hier musste ein dauerhaftes Konzept gefunden werden. Die Lösung war schließlich die damals wie heute anachronistisch anmutende Gesellschaftsform der Genossenschaft, deren Idee im 19. Jahrhundert u.a. von H. Schulze-Delitzsch und F.W. Raiffeisen entwickelt worden waren und deren »Themen man heute eher aus den Spottschriften ihrer Gegner als aus ihren eigenen Texten« kennt, wie dies die Wissenschaftler Michael J. Piore und Charles F. Sabel vom weltberühmten Massachusetts Institute of Technology formulierten.[1] Die Genossenschaft erschloss dem Berufsstand die Möglichkeiten der Massenverarbeitung, ohne die einzelnen Mitglieder in der Entfaltung ihres individuellen Könnens zu beschränken. Im Gegenteil, sie stärkte sogar die Leistungsfähigkeit des steuerberatenden Berufs. Das war die Lösung.
»Ich glaube, Heinz Sebiger hatte in seinem Hinterkopf diesen Dreisatz lange vor uns gelöst«, lobt der Nürnberger Steuerberater Dr. Gerhard Nopitsch »die schnelle Intelligenz dieses Mannes. Mit seiner Begeisterung riss er uns immer wieder mit«. (Nopitsch war erster Aufsichtsratsvorsitzender der Genossenschaft. Er erlebte die Entwicklungsgeschichte der DATEV von ihren ersten Anfängen an voll mit.)
»Es zeichnet Sebigers Führungsstil aus, dass er mit seinem Erkenntnisprozess erst herauskam, als er für alle Beteiligten nahe lag«, ergänzt Rechtsanwalt Klaus F. Hartmann, der als Justitiar der Nürnberger Kammer der Steuerbevollmächtigten, ebenfalls ein Mann der ersten Stunde. Hartmann war dann ab 1966 auch Syndikus der DATEV und gestaltete in dieser Eigenschaft bis heute die rechtlichen Angelegenheiten der Genossenschaft.
[1] Michael J. Piore, Charles F. Sabel, Berlin 1985, „Das Ende der Massenproduktion“



Fortsetzung folgt

Donnerstag, 12. Februar 2009

I: 2.1 Die neuen Produktionsmittel

Nürnberg. Freitag, 31. Januar 1969, 19.00 Uhr. In der zweiten Etage des Gebäudes Paumgartnerstraße Nr. 6 herrschte höchste Aufregung. Prominenz nahte. Mit Verspätung.Vormittags hatte Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß noch mit dem Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger und den Ministerpräsidenten der Länder über die Finanzreform konferiert. Ohne Ergebnis. Dann war er mit einem Hubschrauber der Bundeswehr nach Nürnberg geeilt. Doch der Flughafen erteilte ihm keine Landeerlaubnis. Er musste hohen Nato-Offizieren, die in der fränkischen Metropole tagten, den Vorrang lassen. Endlich, nach 30 Minuten des Wartens in der Luft, hatte der Finanzminister wieder festen Boden unter den Füßen. Endlich ging es ab zum Grand-Hotel. Inzwischen war es 17.30 Uhr.



Wirtschaftsminister Karl Schiller und Finanzminister Franz-Josef Strauß, auch bekannt als Plisch und Plum, waren das Vorzeigestück der Großen Koalitionen von Union und SPD, die im Januar 1969 in ihre letzte Phase ging.


I: 2.2 Minister auf Knopfdruck

Die DATEV hatte den Minister zu einem Vortrag eingeladen. Sein Thema: »Elektronische Datenverarbeitung und Steuerrecht«. Doch damit war sein Engagement noch nicht zu Ende. Kurz vor 19.00 Uhr brachte ihn eine Eskorte zur Paumgartnerstraße mit der Hausnummer 6.Wenige Minuten später stand der Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß vor der Bedienungskonsole eines Computers im »Großrechenzentrum der DATEV Deutschland« (Nürnberger Zeitung). Dann war der große Augenblick da. Strauß beugte sich hinunter und drückte auf einen Knopf.

Finanzminister Strauß
Foto: DATEV


I: 2.3 Der Proficlub


Profis unter sich. Ganz links: Heinz Sebiger

Der Minister hatte mit diesem symbolischen Knopfdruck das Rechenzentrum der DATEV eGmbH offiziell in Betrieb genommen. Das Unternehmen, das drei Jahre zuvor mit dem Ziel gegründet worden war, seinen Mitgliedern DV-Dienstleistungen anzubieten, besaß jetzt einen eigenen Computer. Bislang war es selbst nur Kunde eines Service-Rechenzentrums der IBM gewesen.Der Schritt vom Amateurverein zum Proficlub war getan. »Ich spürte, dass nun die Experimentier- und Probephase endgültig zu Ende war«, erinnert sich Sebiger. Die Paumgartnerstraße in Nürnberg sollte die erste und wichtigste Adresse für die bundesdeutschen Steuerberater werden, die hier ihre Mandanten-Buchungen verarbeiten ließen.
Foto: DATEV

I: 3.1 Maschinensaal

In dieser Straße sollte sich in den folgenden Jahren über eine ganze Häuserzeile, ja sogar über einen ganzen Block hinweg jener gewaltige Gebäudekomplex ausbreiten, der heute unter dem Namen DATEV I bekannt ist.Am 1. Juni 1968 war die Genossenschaft in die zweite Etage desehemaligen Gebäudes der Nürnberger Schraubenfabrik NSF eingezogen. Genau 5.500 DM Miete zahlte sie monatlich für 1.800 Quadratmeter an die Gute Hoffnungshütte. Doch das war nichts im Vergleich zu den 245.000 Mark, die sie nun für ihren bei IBM gemieteten Computerpark monatlich zahlte. Die 70 Mitarbeiter waren stolz auf ihren Maschinensaal.


I: 3.2 In der Hälfte der Zeit

Immerhin standen hier vier Großrechner: zwei Modelle IBM /360-20 und zwei Modelle IBM /360-40. An diese Systeme waren sechs Drucker angeschlossen. Alles lief wie am Schnürchen. Die Buchungsprogramme hatten alle Tests bestanden. Von diesem Tag an wollte die DATEV die Aufträge ihrer momentan 2.558 Mitglieder, hinter denen etwa 100.000 Steuerpflichtige standen, täglich verarbeiten. Bis Ende des Jahres sollte sich die Zahl der Mandanten auf 140.000 erhöhen und die der Mitglieder ganz dicht an die 4000er Grenze herankommen. Gerechnet hatte Sebiger mit nur etwas mehr als 3.000 Berufsangehörigen. Doch das Konzept der DATEV war einfach zu attraktiv. »Die elektronische Datenverarbeitung in der Steuerberatung macht es den Beratern möglich, die Buchführungsarbeiten für ihre Mandanten in der Hälfte der bisherigen Zeit zu erledigen«, würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung damals in ihrem Wirtschaftsteil das Rechenzentrum.[1]



Quelle:
[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.2.69: »Steuerberatung mit Computer«


I: 3.3 Nürnberger Rechentrichter

Schon jetzt wurden allmonatlich 20 Millionen Buchungszeilen durch den Nürnberger Rechentrichter geschleust.[1] Die DATEV war auf diesen Ansturm vorbereitet. „Außerdem, und das ist ein Novum, fällt bei der elektronischen Auswertung der Buchhaltungsunterlagen zusätzliches Material an, aus dem die Rentabilitäts- und Liquiditätslage der Mandanten sofort abgelesen werden kann“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung. »Was die Berater bisher in mühevoller Zusatzarbeit zusammenstellen mussten, wird jetzt vom Computer praktisch als ‚Abfall’ geliefert.«[2]Nicht nur die Finanzbuchhaltung mit Journalen, Kontenblättern, Summen- und Saldenlisten, Debitoren und Kreditoren werden hier abgewickelt, konkretisierte Sebiger die neue Welt der DATEV. Vielmehr würden obendrein »ganz erhebliche zusätzliche Leistungen« wie etwa „eine monatliche Ertrags- und Kostenanalyse in absoluten und relativen Werten« erstellt. Außerdem würde für die Mandanten eine „voll ausgefertigte Umsatzsteuervoranmeldung« an die Mitglieder ausgeliefert.[3]


Quellen:
[1] Fränkische Tagespost, 1./2.2.69: »Computer für Steuern««
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.2.69: »Steuerberatung mit Computer«
[3] Nürnberger Zeitung, 1.2.69: »Finanzminister Strauß ging in die Luft«

I: 3.4 Elektronische Steuergehilfen




Mitgründer Joachim Mattheus erklärt dem Finanzminster die Seele der Maschine

Mit ihrer DV-Organisation konnte man sich schon sehen lassen. Gespannt hatten die Mitarbeiter den gesamten Nachmittag auf den berühmten Knopfdruck von Franz-Josef Strauß gewartet. Nun war der große Augenblick vorbei. Die Besichtigung des neuen Rechenzentrums konnte beginnen. Das war die Stunde von Vorstandsmitglied und Mitgründer Joachim Mattheus. Er führte nun die Ehrengäste, mit Strauß und Konrad Pöhner, dem damaligen Finanzminister Bayerns, an der Spitze durch den Maschinensaal.
Seine Erläuterungen bewiesen vor allem eins: Die Nürnberger waren längst DV-Profis geworden.
Der Besuch des Bundesfinanzministers war nicht ohne Pikanterie, wie Hans-Olaf Henkel, seit 1985 Vorsitzender der Geschäftsführung der IBM Deutschland, befindet. Denn ausgerechnet der oberste Chef der Finanzbehörden startete jene Rechenanlage, »die vielen helfen sollte, Steuern zu sparen«. Aber mehr noch sollte dieses neue Rechenzentrum dabei helfen, Steuern einzunehmen…

Samstag, 31. Januar 2009

I: 1.1 Ein Großrechner wird angekündigt...



Paris. Dienstag, 30. Juni 1970, 14.30 Uhr. Im Haus der französischen Eisenbahnergewerkschaft, direkt neben dem Hilton-Hotel, verkündet Jacques Maisonrouge, Präsident der IBM World Trade Corporation, den aus ganz Europa herbei gejetteten Journalisten: »In den vergangenen Monaten konnte man gelegentlich von der bevorstehenden Ankündigung eines Nachfolgesystems für unsere Computerserie /360 hören. Ich habe heute das große Vergnügen, alle Ungewissheiten durch die Ankündigung des IBM Systems /370 zu beenden...« [1]

Eine Fülle von technischen Details, cineastische Vorführungen und eine televisionäre Life-Übertragung nach Montpellier in Südfrankreich, in die Großrechnerfertigung der IBM, prasselt auf die Journalisten und Analysten nieder. Ein grandioses Spektakel um Bits und Bytes nimmt seinen Lauf. Rund um den Globus. Zum selben Zeitpunkt, »auf die Minute genau«, wie die in Köln erscheinende »Zeitschrift für Datenverarbeitung“ (heute Online) schreibt, wird die neue Computerserie in New York und Tokio angekündigt.[2]





Quellen:

[1] Die Computer Zeitung, 8 Juli 1970, Norbert Leckebusch: »System/370: Massenspeicher und minimale Zugriffszeiten«
[2] ZfD, Jahrgang 1970, Ausgabe Juli, Seite 302ff: »Fortschritt ohne Revolution«

I: 1.2 ... vor allem für die größten Unternehmen der Welt

Mit der Vorstellung der neuen Rechnerfamilie zeigte IBM ihren ausgeprägten Sinn für Größe. 7,5 Milliarden Dollar sollte der amerikanische Computergigant in diesem Jahr weltweit umsetzen und erstmals in seiner Geschichte mehr als eine Milliarde Dollar Reingewinn erzielen. In den nächsten fünf Jahren wollte und sollte er beides verdoppeln, Gewinn und Umsatz. Die Quelle des gigantischen Wachstums: die neue Computerserie. Sie markierte den Übergang von der Stapelverarbeitung zum Dialogzeitalter, das den Bedarf der Kunden an Rechenkraft ins Unermessliche steigen lassen sollte.
An diesem Tag startete IBM durch zum nächsten Run auf die Großunternehmen, ihrer mit Abstand wichtigsten Kundschaft. Und der anhaltende Konzentrationsprozess in der Wirtschaft ließ ständig noch größere Konzerne entstehen, die noch größere Computer benötigten.
Rund um den Globus wurden zu Beginn des neuen Jahrzehnts nach Ermittlungen der internationalen Beratungsgesellschaft Diebold 111.600 Computer gezählt.[3] Allein 35.000 der größten Rechner der Welt waren in IBM-Fabriken hergestellt worden. Dieses Unternehmen lenkte mehr als 60 Prozent des Weltumsatzes der Computerindustrie in seine Taschen. Bis 1975 sollten der Branchenumsatz auf 27,5 Milliarden Dollar und der Installationsbestand auf 170.000 Systeme weltweit ansteigen. Trotz dieser Steigerung um 120 Prozent sollte IBM immer noch mehr als 50 Prozent des Geschäftes auf sich ziehen. Ihr Umsatzmagnet war dabei die neue Computerfamilie /370, die an diesem 30. Juni1970 vorgestellt wurde.




Quellen:
[3] Die Computer Zeitung, 21.April 1970: „Der Welt-Computer-Bestand« [4] Die Computer Zeitung, 8.Juli, 1970: „System /370: Welt-Premiere in New York, Tokio, Paris«

I: 1.3 18 Millionen Mark für einen Computer und...

Knapp achtzehn Millionen Mark sollte das neue Topmodell mit dem Nummernnamen 165 in einer mittleren Konfiguration kosten. Bei Kauf. Bei Miete - so verkündete der Hersteller - seien es 373.000 Mark. Pro Monat. So etwas konnten sich in der Tat nur Umsatzmilliardäre leisten.[4] Und das etwa halb so teuere, kleinere Rechnermodell /370-155 war auch nur etwas für die 100 größten Kunden in den jeweiligen Landesgesellschaften des Computer-Imperiums.
Den Anwendungsbedarf hatten IBM-Marktforscher weltweit in einem „Sample« von rund 1.000 Großunternehmen studiert. Die Untersuchung hatte gezeigt, dass nun das Dialogzeitalter in den Großunternehmen nahte. Klar, dass unter den Hunderten von verschiedenen Anwendungen, die dabei innerhalb von zwei Jahren analysiert worden waren, nicht die dabei waren, die mittelständische Betriebe normalerweise benötigen – oder gar Freiberufler.[5]



Quellen:
[4] Die Computer Zeitung, 8.Juli, 1970: „System /370: Welt-Premiere in New York, Tokio, Paris«
[5] Die Computer Zeitung, 8. Juli, 1970: „System /370: Welt-Premiere in New York, Tokio, Paris«

I: 1.4 ... ein Mittelständler ist der erste Kunde dieser Rechner: die DATEV


Paumgartner Straße: Bis heute Sitz der DATEV
Doch es war eine kleine Firma, die Freiberuflern gehörte und im Geschäftsjahr 1969 bei einem Umsatz von gerade 10,7 Millionen Mark einen winzigen Ertrag von 467.000 Mark erzielt hatte, die “als erstes deutsches Unternehmen“ – so das Fachblatt „Die Computer Zeitung“ am 5. August 1970 – das neue Spitzenprodukt der International Business Machines Corp. orderte. Der Name des Kunden: DATEV e.G. mit Sitz in Nürnberg.[6]
Dieses Service-Rechenzentrum wollte sich rechtzeitig mit Rechenleistung eindecken, um den großen Sprung von der reinen Stapelverarbeitung in das Online-Verfahren zu wagen. Deshalb bestellte der Vorstand dieses winzigen Unternehmens am Tag nach der Ankündigung nicht nur ein, sondern gleich zwei Top-Modelle /370-165. Nach Adam Riese kamen damit mehr als acht Millionen Mark Jahresmiete auf das Unternehmen zu.

Quellen:
[6] Die Computer Zeitung, 5. August 1970: „DATEV mit IBM /370-165«

I: 1.5 Durch Computer eine Firma ruinieren?

Konnte sich diese kleine Firma soviel Technologie-Besessenheit leisten? Hatte die Geschäftsführung das Rechnen verlernt? War das nicht tollkühn und mehrere Nummern zu groß? Womit wollte das Unternehmen künftig die Gehälter seiner 230 Mitarbeiter bezahlen? Wollte der Vorstand seine Firma ruinieren? Immerhin schien er dazu die neueste und sicherste aller Methoden gewählt zu haben: den Computer.
Die Entscheidung wirkte umso grotesker, als die DATEV in einem sterbenden Markt operierte: Freie Service-Rechenzentren hatten ihre Zukunft eigentlich hinter sich. Immer mehr Großanwender stellten ihre Computerleistung auch Dritten zur Verfügung, vorwiegend kleinen Firmen, denen die Anschaffung und der Betrieb eines eigenen Rechners einfach zu teuer war. Allein in der Bundesrepublik waren so bis 1970 rund 500 Service-Rechenzentren entstanden, die ausschließlich oder teilweise für Dritte arbeiteten; zwanzig Jahre später sollten es nur noch 150 sein.


I: 1.6 Die teuren Leitungen der Deutschen Bundespost

Der technologische Fortschritt, der Preisverfall sowie der Boom von Anwendungsprogrammen und Personal Computern sollten in den achtziger Jahren den Niedergang dieser Branche verursachen. Aber ihr größtes Handicap sollten nach ihrem eigenen, subjektiven Empfinden die »Gebührensätze und Richtlinien der Post“ werden, wie eine 1988 durchgeführte Untersuchung bei 61 Service-Rechenzentren ergab. Sie behinderten die Expansion.[7]
Tatsache ist, dass Anfang der siebziger Jahre die Einführung des Dialogverfahrens, das eine direkte Verbindung zwischen einem Bildschirm und dem Rechner verlangt, die DV-Welt gründlich veränderte. Und die hohen Kosten für Leitungen zu ihren Kunden haben den freien Rechenzentren das Leben immer schwerer gemacht. Nur wer über ein dichtes Netz an dezentralen Zugangsstellen zum Zentralrechner verfügte, konnte die Gebühren in den Griff bekommen. Aber das war ebenso kapitalintensiv wie die Ausstattung der Rechenzentren mit genügend Kapazitäten. Unmengen von Daten, die bald nur noch in Tausenden von Megabytes, in Gigabytes, gemessen wurden, mussten auf Magnetplatten vorgehalten werden.




Quelle:
[7] Peter Schulte, 5. Dezember 1988: „Die Problematik der Service-Rechenzentren - derzeitige Situation und Aussichten« (Diplom-Arbeit), Wetzlar

I: 1.7 Die Welt voll Lohn und Gehalt und Fibus

1970 war so etwas wie das Schaltjahr von der Stapelverarbeitung (Batch-Betrieb) zum Dialog- und Online-Verfahren. Die Batch-Ära – das war die Blütezeit der Service-Rechenzentren und ihrer Mehrwertdienste. Alle Branchen wurden mit diesen Dienstleistungen versorgt. Die von der Datenerfassung getrennte Verarbeitung von Massendaten, die auf Datenträgern wie Magnetband, Lochkarten oder Lochstreifen über den Postversand angeliefert wurden, war der große Renner. Auch IBM hatte überall in der Welt Service-Rechenzentren eröffnet, die solche Dienste zur Verfügung stellten.
Die klassischen Anwendungsfelder waren Finanzbuchhaltung sowie Lohn- und Gehaltsabrechnung.
Und in diesem Geschäft war die DATEV eigentlich nur ein kleiner Fisch.


I: 1.8 Mickey-Mouse-Computer und Piccolo-Platten

War IBM verrückt geworden, dass sie die Unterschrift der Spitzenmanager dieser Genossenschaft auf dem Mietschein akzeptierte? Das war doch allenfalls ein Kunde für den gerade in Aufbau befindlichen Vertriebsbereich Basisdatenverarbeitung, der sich mit kleinen Systemen (IBM /3) um den Mittelstand kümmern sollte. Für solche Anwender der so genannten Mittleren Datentechnik hatten die Großsystemleute doch sonst nur ein müdes Lächeln übrig und verwiesen sie an die Kollegen von der Mittelstands-Truppe. Deren Rechner nannten sie verächtlich Mickey-Mouse-Computer und die dazu passenden Magnetplattensysteme Piccolo. Das allein war die richtige Arme-Leute-DV für ein derart kleines und ertragsschwaches Unternehmen wie die DATEV.


I: 1.9 Ein Vorstand im High-Tech-Rausch?

Und mussten obendrein auch noch Fachjournalisten die DATEV völlig unmöglich machen, indem sie den Vorstandsvorsitzenden der Genossenschaft in ihren Publikationen erklären ließen, dass dies Unternehmen mit der Installation dieser beiden Größtrechner das leistungsfähigste und größte Rechenzentrum auf berufsständischer Ebene der Welt besäße?[8] Waren denn alle vom Größen-Wahnsinn befallen? Hatte der High-Tech-Rausch alle Hemmungen abgebaut? Gab es keine kritische Instanz mehr in diesem Markt?
Der Name des tollkühnen Bestellers, der an der Spitze dieser Firma stand: Heinz Sebiger, 47 Jahre alt, Diplom-Volkswirt, wohnhaft in Nürnberg, glücklich verheiratet, zwei Töchter. In seiner Heimatstadt war dieser Mann als vernünftiger und gewissenhafter Steuerberater bekannt.



Quelle:
[8] Die Computer Zeitung, 5. August 1970: „DATEV mit IBM /370-165«

I: 1.9 Aufgewachsen in kleinsten Verhältnissen...

Der Nürnberger war in bedrückenden Verhältnissen aufgewachsen. In seinem Geburtsjahr 1923 zählte das Deutsche Reich 3,4 Millionen Arbeitslose und 2,3 Millionen Kurzarbeiter. Die Inflation hatte den Dollarpreis auf 57.000 Papiermark hochgetrieben. Mehr als der Besuch der Volksschule und eine kaufmännische Lehre bei der HOCHTIEF AG waren nicht drin gewesen. Schließlich kam der Zweite Weltkrieg: Arbeitsdienst und Wehrdienst als Gebirgsjäger und zwei Jahre Kriegsgefangenschaft in Südfrankreich lagen hinter ihm, als er 1947 in seine Heimatstadt zurückkehrte. Der junge Mann fand im Hopfenhandel eine neue Anstellung, und in Abendkursen erlangte er 1947 das Zertifikat als Bilanzbuchhalter.
Wenige Jahre später hatte er es geschafft. Er besaß am Hauptmarkt als anerkannter Helfer in Steuersachen eine eigene Kanzlei mit sieben Angestellten.


I: 1.10 ... zwischen Schulbank und eigener Kanzlei

An der Nürnberger Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften holte er in Abendkursen mit einer Sonderreifeprüfung das Abitur nach, obwohl er als Volksschulabgänger gar nicht die Voraussetzungen erfüllte. Nun besaß er die Voraussetzung für das von ihm ersehnte Studium der Nationalökonomie.
Daneben musste die Kanzlei weiterlaufen. Ohne die Mithilfe seiner Frau wäre dies undenkbar gewesen.
In dieser Zeit machte Sebiger drei Grunderfahrungen, die seinen weiteren Lebenslauf prägen sollten. Das Studium lehrte ihn, hinter die Dinge zu schauen, mit denen er bislang als Helfer in Steuersachen so selbstverständlich umgegangen war. Es schärfte seinen kritischen Verstand. Zudem nahm er 1957 an einem vierzehntägigen Kurs bei der IBM teil und erlebte hier die Faszination des damals bestgeführten amerikanischen Unternehmens. Doch die wohl wichtigste Erkenntnis gab ihm einer seiner Lehrer, Professor Dr. Ernst Wohlgast, mit auf den Weg.
Während einer Vorlesung über Öffentliches Recht hatte der Wissenschaftler sich einmal die Studenten zur Brust genommen und erklärt: „Wenn Sie schon das große Glück haben, studieren zu dürfen, dann sollten Sie daran denken, dass Sie dies in erster Linie der Gemeinschaft zu verdanken haben. Mit Ihren Gebühren bezahlen Sie Ihr Studium nicht. Ein Hochschulabsolvent ist deshalb dazu verpflichtet, sein Wissen im Interesse der Gesellschaft einzusetzen, die ihm dieses Studium ermöglicht hat.« Diese Worte gingen Sebiger nicht mehr aus dem Kopf. Urteilskraft, Begeisterung und Idealismus waren die drei Werte, die, über das Fachwissen hinweg, seinen weiteren Lebensweg bestimmen sollten.



I: 1.11 Der Diplom-Volkswirt Heinz Sebiger und...

Sebiger war 36 Jahre alt, als er schließlich 1959 sein Diplom in der Tasche hatte. Damit besaß er alle Voraussetzungen, um seine Mandanten bestens zu beraten.
Aber er wollte sein Wissen und sein Können auch in seinen Berufsstand einbringen, den er als Teil der Gesellschaft empfand, der er sich verpflichtet fühlte. Als Vizepräsident und später als Präsident der Kammer der Steuerbevollmächtigten in Nürnberg gehörte er seit 1961 zu den Honoratioren seiner Stadt und seines Berufsstandes. Außerdem war er Vorsitzender des Fachausschusses »Steuern« bei der Bundeskammer der Steuerbevollmächtigten.
Kurzum: dieser zielstrebige und ehrgeizige Bundesbürger machte überhaupt nicht den Eindruck eines Hazardeurs.

I: 1.12 ... die Millionenmiete für zwei Maschinen...

Und doch hatte dieser Mann am Tag nach der Ankündigung im Namen eines Unternehmens, das ihm weder gehörte, noch dessen fest angestellter Mitarbeiter er war, gemeinsam mit seinem Stellvertreter Joachim Mattheus einen millionenschweren Mietvertrag unterschrieben.
Hatte er die Folgekosten einer solchen Anschaffung bedacht? Allein die Stromrechnung für Computer und Klimageräte. Dann die Personalaufwendungen. Schließlich die Zusatzinvestitionen in Peripheriegeräte.

I: 1.13 ... und 5000 Eigentümer

Sebiger besaß zwei Anteile in Höhe von insgesamt 1.000 Mark an dieser DATEV, aber damit war er nur einer von damals knapp 5.000 Eigentümern, die allesamt wie er dem steuerberatenden Beruf angehörten und diese kleine Genossenschaft als Gemeinschaftsunternehmen gegründet hatten. Sebiger war der ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende dieser Firma, hinter der nicht die Gewinnerzielung, sondern ein berufsständischer Zusammenschluss als Absicht stand. Konnte er überhaupt beurteilen, was er da mitunterschrieben hatte? Missbrauchten er und seine Vorstandskollegen mit ihrer Unterschrift nicht das Vertrauen der Kollegen und des Aufsichtsrates, der diese Entscheidung gebilligt hatte? Konnten seine Mitarbeiter überhaupt solch eine Rieseninstallation managen?[9] Wie dem auch sei: Ein durch und durch seriöser und strebsamer Steuerberater bestellte kraft seines Ehrenamtes zwei Riesenrechner für eine winzige Genossenschaft, an der nur zweierlei groß war: - die Zahl der Computerlaien, denen diese Firma gehörte, - und ihr Name, so wie er damals ins Genossenschaftsregister eingetragen war: DATEV GmbH Datenverarbeitungsorganisation der Steuerbevollmächtigten für die steuerberatenden Berufe in der Bundesrepublik. Das schien absurd. Das machte doch gar keinen Sinn. Versuchen wir also einen neuen Anfang!



Quelle:
[9] Die Computer Zeitung, 21. April .1970: »Großcomputer für die Kleinen«

Freitag, 30. Januar 2009

Kapitel I: 1961-1970: Von der Mehrwert-Steuer zum Mehrwert-Dienst



»Die Nutzung der Computer ist viel schwieriger als ihre Fabrikation. Es kommt dabei auf Intelligenz und Teamwork an, und darin liegt Europas Aufgabe, wenn es das Problem begreift. Europa muss im Aufbau seiner Strukturen intelligenter sein, da es mit seiner industriellen Ausrüstung im Rückstand ist. Auf diese Weise könnte es, wenn es wirklich den politischen Willen dazu hätte, alle Aktivitäten der Zukunft auf seine Weise prägen, von den Geisteswissenschaften bis zur Leitung der Wirtschaftsunternehmen.«

»Die amerikanische Herausforderung«, Jean-Jacques Servan-Schreiber, 1968[1]

Quellen:
[1] Jean-Jacques Servan-Schreiber, 1967, „Le défi americaine“ zitiert nach der deutschen Fassung, 1968: „Die amerikanische Herausforderung«, erschienen bei Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, Seite 151


Dienstag, 27. Januar 2009

000: Vorspiel

»Fast wollte ich mit und dabei sein.«
Günter Grass: »Die Plebejer proben den Aufstand«
Uraufführung am 15. Januar 1966 im Schiller-Theater Berlin


Es geschah an einem bitterkalten Tag...
Nürnberg. Freitag, 14. Januar 1966. 14.00 Uhr.
Die Minuten verstri­chen. Immer noch kamen Berufskollegen zur Tür herein. In der Nacht wa­ren die Tem­pe­raturen auf minus 15 Grad gesunken. Es war glatt auf den fränkischen Stra­­ßen. Schließlich hatten sich 106 Steuerbevollmächtigte aus dem Kammerbezirk durch das eisige Win­ter­wet­ter gewagt. Hier am Kornmarkt, im Großen Saal des Christlichen Ver­eins Junger Männer (CVJM), hatten sie sich ge­trof­fen, um einen Vorschlag ihres Präsidenten Heinz Sebiger zu disku­tieren: »die Gründung eines zentralen Re­chen­zentrums auf genossenschaftlicher Basis«.
Es war kurz nach 14.00 Uhr, als Sebiger den Vizepräsidenten Dr. Gerhard Nopitsch antipp­te. »Es fehlen zwar noch rund 30 Kollegen, aber wir fangen jetzt an.« Nopitsch nickte.

Ein Markt von einer Million Buchungszeilen
Sebiger ging zum Podium. Winter und Wetter waren vergessen. Jetzt ging es da­rum, die Zukunft zu buchen. »Dies ist eine Interessenten­be­spre­chung«, erklärte der Nürnberger. »Die Umfrage unserer Kammer, die wir im Rationalisierungsausschuss erarbeitet und am 25. No­vem­ber vergangenen Jahres an die 1.600 Mit­glie­der verschickt haben, war ein großer Erfolg. 404 Kollegen haben die zum Teil sehr schwie­­rigen Fragen beantwortet. Das Ergebnis ist eindeutig. Die­ Mandanten kommen im verstärkten Maße auf unseren Berufsstand zu mit dem Wunsch, dass wir für sie die Buchführung überneh­men. Lie­be Kollegen, wir können uns diesem Ansinnen wohl kaum entziehen, ob­wohl es große organisatorische und technische Anforderungen an je­den von uns stellt. Die Auswertung der Umfrage ergab, dass al­lein bei den Kollegen, die den Fragebogen ausgefüllt zurück­sand­ten, ein monatlicher Bedarf von mehr als einer Mil­lion Bu­chungs­zeilen pro Monat besteht. Im Rationalisierungsausschuss, den wir im ver­gangenen Jahr auf Kammerebene gegründet haben, sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass dahinter eine Aufgabe steht, die wir ge­meinschaftlich lösen müssen. Wir haben Ihnen deshalb mit der Um­frage die Idee vorgestellt, ein Rechenzentrum auf genos­sen­schaft­licher Basis zu gründen. Die nun vor­liegenden Ergebnisse bestätigen die Richtigkeit dieser Idee. Immerhin stehen 130 Kol­le­gen der Gründung eines Rechenzentrums grundsätzlich positiv ge­genüber.«

»Was sollen wir mit 68.000 Mark?«
Dann stellte Sebiger seinen Fachmann vor: Joachim Mattheus, eben­falls Steuerbevollmächtigter in Nürnberg und Computer-Experte. De­tailliert erläutert Mattheus das organisatorische und tech­ni­sche Konzept, das hinter der Idee steht. Die Teilnehmer sind be­eindruckt. Zwar gibt es noch viele offene Fragen, die auch hef­tig diskutiert werden, doch als es nach zwei Stunden zum Schwur kommt, zeichnen spontan »68 Kollegen eine ver­bindliche Zu­sage über den Beitritt zur Genossenschaft«, vermerkt das Protokoll.
Die Akzeptanz war höher als erwartet. Zwar wusste keiner so recht, was da auf ihn zu­kam. Aber auf jeden Fall wirkte das Konzept zukunftsträchtiger als die Lösungen, die sie bislang auf eigene Faust in ihren Kanzleien er­probt hatten. Dieser Vorschlag war den Einsatz wert. Und dies erst recht, nachdem Mattheus vorgeschlagen hatte, den ur­­sprüng­lich auf 1.000 Mark fixierten Genossen­schafts­anteil je Mit­glied zu halbieren. »Was sollten wir mit 68.000 Mark Startka­pi­tal? Die Hälfte tut's auch.«
So wurde der entsprechende Passus auf dem Beitrittsformular hand­schriftlich von jedem der 68 Gründer geändert. Und sie taten es ger­ne: denn 1.000 Mark war eine Stange Geld, fast ein Monatseinkommen.
Nun musste nur noch das Fähnlein gefunden werden, das die Schluss­fassung der Sat­zung ausarbeitete, der Genossenschaft ihren Namen gab und alle Formalitäten mit dem Registergericht regelte. Einen Monat später, am 14. Februar 1966, wurde die DATEV end­gültig ge­grün­det.